Liebe Osteuropa-Expert:innen und Neugierige,

den Anstoß für das Start­thema unseres neuen dekoder-News­letter Wissen+ lieferte eine Reportage der Novaya Gazeta Europe vom Juni 2025. Darin geht es um die so­ge­nannten „patriotischen Foren“, die russische Behörden und regime­nahe Struk­turen seit Beginn des voll­um­fänglichen Krieges gegen die Ukraine für russische Studierende ver­an­stalten. 2024 fanden drei solche Foren pro Woche in ver­schiedenen Orten statt, schreibt die Novaya. Dort erleben die Studieren­den Vorträge, Debatten und Wett­bewerbe über orthodoxe Werte und Patriotismus.  

Die Novaya-Reportage zeigt, dass die student­ischen Teil­nehmer:innen diese Ver­an­staltungen mit Pragmatismus oder gar Zynismus wahr­nehmen. Über­wiegend sehen sie diese Foren als Unter­haltung oder als Chance, sich Plus­punkte für Studium oder Karriere zu sichern.

Gleich­zeitig ver­breiten sich national­istische, anti-westliche und anti-ukrainische Propa­ganda und Mili­tari­sierung auch in den Vorlesungs­sälen und der akademischen Lehre Russlands, inter­nationale Programme werden gestrichen. Und das nicht erst seit der russischen Voll­invasion in der Ukraine 2022, sondern bereits seit der Krym-Annexion und dem Kriegs­beginn im Donbas 2014, wie bei­spiels­weise der Historiker und Wissen­schafts­soziologe Dmitrij Dubrowsky von der Karls-Universität Prag (CZ) analysiert.

Welche Folgen hat das? Wirken diese Maß­nahmen oder sind sie nur staatlich verordnete Imitation von Indok­tri­nierung? Und was genau will der russische Staat im Krieg von seinen Aka­demiker:innen? Damit be­schäftigt sich diese Ausgabe von dekoder-Wissen+.

DIE ZAHL ZUM THEMA:

28.383

STUDIERENDE IM RAHMEN DER „KRIEGS­QUOTE“ IN RUSSLAND

Im Jahr 2023 hat Wladimir Putin eine spezielle Quote kosten­freier Studien­plätze für „Teil­nehmende an der Spezial­operation“, also am Krieg in der Ukraine, und ihre Kinder (an einigen Hoch­schulen auch für andere Familien­mitglieder) ein­geführt. Dazu gehören auch An­gehörige der Sicher­heits­kräfte und andere „Bürger, die dienst­ähnliche Funktionen“ in den be­setzten Gebieten der Ukraine aus­übten. Ihnen stehen nun min­destens zehn Prozent der staatlich finan­zierten Studien­plätze in jedem Studien­gang und an allen Hoch­schulen zu.

Diese Quote ist bisher in Russ­land der erste Fall, in dem der Beruf der Eltern den Kindern die Möglich­keit gibt, zu ver­günstig­ten Be­dingungen an Hoch­schulen zu studieren. Kinder von Lehrer:innen, Ärzt:innen, Rettungs­kräften, Ingenieur:innen und Vertretenden aller anderen Berufe haben solche Privi­legien nicht.

2025 beträgt die Gesamtzahl der Studien­an­fänger:innen in Russland 904.000, davon sind 441.100 staat­lich finan­ziert.

Dies ist die kosten­freie Pilot-Ausgabe unseres neuen News­letters dekoder-Wissen+.

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Der News­letter dekoder-Wissen+ erscheint voraus­sichtlich ab November im Zwei-Wochen-Rhythmus – im Wechsel mit einem russisch­sprachigen News­letter, der sich mit Themen russisch­sprachiger Menschen in Europa be­schäftigen wird.

THEMA DER WOCHE: Propa­ganda im Hör­saal

Im Juni 2026 werden jene russischen Student:innen ihre Bachelor-Ab­schlüsse er­halten, die ihr Studium im September 2022 be­gonnen haben – also bereits nach der russischen Invasion in der Ukraine. Welche Er­fahrungen machen sie? Wie stark ist der ideo­logische Druck an den russischen Uni­versi­täten? Dabei unter­scheiden wir zwei Typen der Indoktri­nierung: Re­pressionen und Ko­optation, beziehungs­weise Anreiz.

Repressionen und Restriktionen

Die politische Unter­drückung an russischen Hoch­schulen begann noch vor dem Über­fall auf die Ukraine. 2021 hatte Russ­lands General­staats­anwalt mit dem Bard College erst­mals eine inter­nationale Bildungs­einrichtung als „uner­wünschte Orga­nisation“ ein­gestuft. Die renommierte US-amerikanische Uni­versität unter­hielt seit Ende der 1990er Jahre enge Beziehungen zu Russland und eine intensive Partner­schaft mit der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. Nun wurden alle ge­meinsamen Programme gestoppt, um eine drohende straf­rechtliche Ver­folgung der Mit­arbeitenden und Studierenden zu vermeiden.

Noch früher, im Jahr 2015, war die Open Society Foundation von George Soros zur „un­er­wünschten Organisation“ erklärt worden, die seit Jahren in Russland eine Viel­zahl von Bildungs­programmen unter­stützt hatte.

2023 folgten das Zentrum für Osteuropa- und inter­nationale Studien (ZOiS) sowie das Aka­demische Netzwerk Ost­europa, später auch wir als dekoder und die Deutsche Ge­sell­schaft für Aus­wärtige Politik (DGAP). Die Deutsche Gesell­schaft für Osteuropa­kunde (DGO) wurde 2024 gar als „extremis­tisch“ ein­gestuft.

Der Krieg in den Unis

Nach Russ­lands Über­fall auf die Ukraine im Februar 2022 wurde bereits am 4. März ein neues Gesetz ver­ab­schiedet, das das Recht auf freie Meinungs­äußerung im großen Stil ein­schränkte: Jedwede „Dis­kredi­tierung der russischen Armee“ und das Ver­breiten von so­genannten „Fake News“ über sie sind seitdem Straf­taten.

Auffällig ist: Der Anteil der Studieren­den, gegen die im Jahr 2022 politisch moti­vierte Ver­fahren als Ordnungs­widrig­keiten ein­ge­leitet wurden, lag deutlich unter ihrem Anteil an der Gesamt­be­völkerung. Der Anteil be­troffener Hoch­schul­lehrender da­gegen war deutlich höher. Bei ähn­lichen Straf­verfahren wiederum war der Anteil der Gesamt­gruppe doppelt so groß wie ihr Anteil an der Be­völkerung Russlands.

Kurz: Akademiker:innen waren über­durch­schnitt­lich aktiv in den Anti-Kriegs-Aktionen 2022. Die Hoch­schulen waren eines ihrer Zentren. Min­destens 70 Studieren­de sind laut OVD-Info ex­matri­kuliert (aber: die Gesamt­zahl der Studieren­den beträgt insgesamt mehr als vier Millionen), 32 Lehr­kräfte ent­lassen oder zum Rück­tritt ge­zwungen worden.

Angst vor Denunziation

In einigen Fällen be­ginnen Re­pressionen mit De­nunziationen, die sowohl von Studieren­den gegen Studieren­de und gegen Lehr­kräfte als auch von Lehr­kräften gegen Studierende oder Kolleg:innen ver­fasst werden. Seit 2022 sind De­nunzia­tionen zu einem syste­matischen Druck­mittel ge­worden, das von der Hochschul­verwaltung unter­stützt oder ge­fördert wird und nicht selten aus dem Inneren der Uni­versi­täts­ge­mein­schaft stammt.
Drei Hochschul­lehrer:innen, mit denen dekoder ge­sprochen hat, haben be­kräftigt, dass sie sich in ihren Vor­lesungen und Seminaren aus Angst vor De­nunzia­tion deutlich „vor­sichtiger“ äußerten und sich selbst zen­sierten, auch wenn das Thema die aktuellen po­li­ti­schen Ent­wicklungen und den Krieg gar nicht be­treffen.

Kooptation und Propaganda

Wie die Re­pressionen begann die Kriegs­propaganda an den russischen Hoch­schulen noch vor dem Über­fall auf die Ukraine. Bereits 2019 wurde das System der Zentren für mili­tärische Aus­bildung an zivilen Uni­versi­täten ge­gründet. Heute gibt es 150 solche Zentren (die Anzahl der Hoch­schulen liegt bei mehr als 700). Zwei Jahre später wurden zudem die so­ge­nannten „patrio­tischen Studenten­clubs“ ein­geführt, die sich in dem Ver­band Ja gorshus (dt. „Ich bin stolz“ ) sammeln.

Seit Februar 2022 ent­wickeln sich in den Hoch­schulen eine Reihe von Akti­vi­täten zur Unter­stützung der russischen Besatzungs­armee und für Kriegs­propaganda. Sie werden zum Teil von der Uni­versitäts­ver­waltung gefördert oder gehören zu staat­lichen Programmen, teils werden sie von Studieren­den selbst initiiert (manchmal mit engen, sogar familiären Ver­bindungen zur russischen Elite). Neben para­mili­tärischen Trainings gibt es Treffen mit Veteranen der soge­nannten SVO (dt. mili­tärische Spezial­operation), wie der Angriffs­krieg vom Kreml offiziell be­zeichnet wird. Zudem finden regel­mäßig Blut- und Geld­spenden­aktionen für die russischen Soldaten statt. An einigen Hoch­schulen werden sogar Drohnen gebaut.

Nach Angaben des russischen Bildungs­ministeriums sind mit 500 Hoch­schulen mehr als die Hälfte in Russland an solchen Aktivitäten be­teiligt. Laut einer Studie von Doxa, einem un­ab­hängigen russischen Medium im Exil, das ur­sprüng­lich als eine Studierenden­zeit­schrift in Moskau ge­gründet wurde, ist die Staat­liche Uni­versität Sankt Peters­burg sowohl bei Re­pressionen gegen Studierende als auch bei propa­gandisti­schen Aktivitäten besonders en­gagiert.

6. März 2022: Brutale Festnahmen einzelner, meist junger Anti-Kriegs-Demonstrierender in St. Petersburg. Mit Repressionen will das Regime jeden Widerstand unterbinden. / Foto © Zuma Press Wire/ Imago

Wie wirksam sind diese Maß­nahmen? Und was will das Regime eigent­lich er­reichen?

Die russische regierungs­nahe Zeitung Argumenty i Fakty berichtete Ende 2023 über Studieren­de, die sich frei­willig zum Militär­dienst gemeldet hätten. Dabei musste sie jedoch ein­räumen, dass es sich dabei nur um Einzel­fälle handelte.
Die Frage ist, ob dies aus Sicht des russi­schen Regimes grund­sätzlich proble­matisch ist. Denn Moskau setzt seit vielen Jahren mehr auf Passivität und Ent­politi­sierung seiner Be­völkerung als auf politische Akti­vierung. Das hat sich auch durch den Krieg nicht geändert.
Für das System ist es wohl wichtiger, jede Form des Widerstands zu verhindern, als ein neues, aktives Pro-Krieg-Milieu unter den Studierenden zu schaffen. Die Kombination aus Restriktionen, Denunziationen und Propaganda verfolgt weiterhin vorrangig das Ziel, Anti-Kriegs-Bewegungen an den Hochschulen zu unterbinden.

Zumal die Regierung den jungen Russ:innen noch eine Form der Anpassung anbietet, die sowohl populär unter Studierenden als auch bedeutsam für die Fortsetzung des Krieges ist: In den letzten Jahren werden immer neue Ausbildungsprogramme eröffnet, wo Student:innen lernen, Drohnen zu konstruieren, zu bauen, zu steuern und weiterzuentwickeln. Hier genügt es gute Noten zu schreiben, um Russlands Aggressionen im Ausland für die überschaubare Zukunft weiter effektiv zu fördern.

Blick nach Belarus: Russland kolonisiert das iso­lierte Uni-System

Im bela­russischen Bildungs­system herrschen „dunkle Zeiten“, schreibt der Philo­sophie-Wissen­schaftler und Pozirk-Bildungs­experte Andrej Łaŭruchin. Der Aus­schluss bela­russischer Hoch­schulen aus Aus­tausch- und Forschungs­programmen mit europäischen Partner­institutionen, den seit Sommer 2020 sowohl die belarussische Führung unter Lukaschenko als auch westliche Partner voran­trieben, er­möglicht mehr Einfluss­nahme Russlands.

Łaŭruchin schreibt: „Eine suk­zessive Assi­milation des bela­russischen Bildungs­systems an das russische ist zu be­obachten.” Dazu gehörten bei­spiels­weise russ­ländische Finan­zierung von Ingenieurs­studien­gängen in Belarus, bilaterale Aktions­pläne der jeweiligen Bildungs­ministerien, gemein­same Lehr­kräfte-Aus­bildung sowie Er­ar­beitung neuer Lehr­bücher, etwa im Fach Ge­schichte.

Blick auf die Ukraine: Gestohlene Universitäten

Über 1.500 ukrai­nische Bildungs- und Forschungs­ein­richtungen sind seit 2014 von Russ­land besetzt worden, darunter 289 Hoch­schulen. Allein in den ersten zwei Jahren des Krieges wurden 1.443 Gebäude be­schädigt oder zerstört. Manche For­schenden be­zeichnen dieses Element des russischen Krieges gegen die Ukraine Eduzid und Scholazid. 
Fast alle ukrai­ni­schen Rektor:innen von Uni­versi­täten in den be­setzten Gebieten hatten sich ge­weigert, mit den Besatzungs­behörden zusammen­zuarbeiten. Neue Führungs­kräfte wurden über­wiegend aus der „zweiten Reihe“ der­selben Uni­versi­täten rekrutiert. Solche „ge­stohlenen“ Bildungs­ein­richtungen werden mittlerweile häufig für russische Propaganda, zur Recht­fertigung der Annexion ukrainischer Gebiete und zur Assimi­lation der ukrai­nischen Be­völkerung in den besetzten Gebieten genutzt.
Immer wieder unter­stützen inter­nationale Organisa­tionen und Verlage diesen Aspekt der russischen Propaganda, wenn sie von Russland besetzte ukrai­nische Uni­versi­täten in inter­natio­nalen Fach­zeit­schriften als „russisch“ dar­stellen.

Hinter­grund: Alles Folgen von Russlands Hochschul­reform der 2000er?

Der Wissen­schafts­soziologe Dmitriy Dubrowsky sieht einen wichtigen Ausgangs­punkt der aktuellen Ent­wick­lungen in Russlands Hochschul­reformen der 2000er Jahre. Ihre Haupt­ziele bestanden eigent­lich darin, die Korruption zu be­kämpfen und an den Hoch­schulen euro­päische, also liberale, Standards ein­zu­führen. Tat­sächlich be­wirkten sie aber eine stärkere Zentrali­sierung und mehr Ab­hängig­keit vom Staat, die bei den russischen Uni­versi­täten ohnehin weit­gehend größer war als in Europa oder den USA.
Noch vor dem voll­um­fänglichen Krieg wurden Russlands erfolg­reichste Hoch­schulen in höchstem Maße von der Politik ab­hängig. Heute initi­ieren und unter­stützen die damals ein­ge­setzten Rektor:innen besonders aktiv die „militärisch-patrio­tischen“ Aktivitäten, so Dobrowsky.  

Damit erinnern die Ergeb­nisse der damaligen Reformen, wenn man sie als Teil einer großen post­sowjet­ischen Uni-Revo­lution ansieht, an den berühmten Aus­spruch von Jacques Lacan von 1968:
„Was ihr als Revolutio­näre anstrebt, ist ein Herr. Ihr werdet einen bekommen.“

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Dmitry Kartsev, Peggy Lohse, Anton Himmelspach

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